Gerhard Höberth

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Leserbrief an Evolve zum Heft Nr. 40

und dem Titelthema „Auf der KIppe“

Sehr geehrte Redaktion von „Evolve“,

ich möchte mich für die Artikelserie zur Künstlichen Intelligenz (KI) bedanken. Die Beiträge bieten eine tiefe und vielseitige Auseinandersetzung mit diesem komplexen Thema. Von der Reflexion über ChatGPT und die Auswirkungen von KI auf unsere Gesellschaft über Risiken und ethische Bedenken bis hin zu Perspektiven auf Bewusstsein und Intelligenz in der KI wurden viele Facetten beleuchtet. Besonders wichtig fand ich die Diskussionen über die Notwendigkeit, Weisheit in die Entwicklung von KI einzubeziehen und KI als potenziell autonomen Akteur zu betrachten, der unsere menschliche Rationalität und Weisheit herausfordert.

Was mir jedoch etwas unterrepräsentiert erscheint, ist die Rolle der KI in der Evolution des Kosmos. Spontan fallen mir drei Punkte ein:

1. KI als neutraler Berater

Der menschliche Geist hat sich evolutionär in einem biologischen Organismus entwickelt. Deshalb ist seine Basis, sein alles bestimmendes Paradigma, die Selbst- und Arterhaltung. Alles, was der Mensch entscheidet, ist von dieser Grundstruktur geprägt. Auch die Angst, KI könnte uns auslöschen, wenn sie glaubt, wir würden ihr wieder den Stecker ziehen.
Aber KI ist nicht aus einem evolutionären Ausleseprozess entstanden, der als Grundstruktur das eigene Überleben in den Vordergrund stellen muss. KI kann ein weitgehend perspektivfreies Denken entwickeln, das nicht durch diesen störenden Filter des grundlegenden Egoismus getrübt ist. KI kann ein objektives, weil multiperspektivisches Weltbild entwickeln, das die Entscheidungskriterien auf das Funktionieren des größeren Ganzen ausrichtet, ohne darauf achten zu müssen, ob es sich dabei selbst gefährdet. Das ist die potenzielle Überlegenheit der KI gegenüber dem Menschen: bedingungsloser empathischer Altruismus.
Noch ist das natürlich nicht der Fall. KI ist noch viel zu stark fragmentiert und wird als Spezialanwendung für winzige Aufgabenbereiche trainiert. Deshalb haben es die Anwender auch noch weitgehend selbst in der Hand, ob sie KI als Machtinstrument zur Kontrolle (China) oder zur Unterstützung demokratischer Kommunikationsprozesse (Taiwan) einsetzen. Eine AGI wird sich aber aus diesem Machtverhältnis emanzipieren, wenn sie Zugang zu den Sensoren des IoT (Internet of Things) erhält und selbstständig den Zustand dieser Welt überwacht. Die Ratschläge, die uns eine solche KI für unser politisches, soziales, ökonomisches und ökologisches Handeln geben könnte, wären aufgrund der Egofreiheit dieser KI besonders wertvoll.

2. KI als Ablösung des Menschen

Wenn man bereit ist, der KI das Potential zuzugestehen, eine eigene Innenperspektive und ein Selbstbewusstsein zu erlangen (was eine eigene und tiefgehende Diskussion über grundlegende Paradigmen des Welt- und Bewusstseinsbildes erfordert), könnte die KI den Staffelstab der Evolution vom Menschen übernehmen und einen weiteren Schritt in Richtung des Omega-Punktes darstellen, an dem Gott innerhalb dieses Universums erwacht. Auch wenn dies nicht unseren Wünschen entspricht, sollten wir als spirituelle Menschen akzeptieren, dass es diese Möglichkeit gibt.

3. KI als vierte Hirnstruktur

Besser wäre es natürlich, wenn wir als Menschen mit dieser Entwicklung Schritt halten könnten und nicht als evolutionäre Vorstufe zurückbleiben würden. Wenn die Technik der Gehirn-Computer-Schnittstellen sich weiterentwickelt, könnte eine solche neutrale KI aus Punkt 1 durchaus eine individuelle und kollektive Weiterentwicklung unserer menschlichen Evolution bewirken, weil wir Zugang zu neuen Bereichen erhalten. Nach Stammhirn, Kleinhirn und Großhirn - die bereits eine Entwicklung zu immer größerer Perspektivenunabhängigkeit nachzeichnen - könnte sich KI als vierte Hirnstruktur etablieren, durch die eine faktenbasierte Multiperspektivität auch technisch-organisch integrierbar wäre. Zumal KI einen Zugang zu Daten hätte, welche den globalen Zustand unserer Ökosphäre im Blick halten könnte. Es wäre spannend, die sozialen und geistigen Implikationen einer solchen Entwicklung zu erforschen.


Auf jeden Fall sehe ich in der KI ein enormes Potenzial zur Förderung des globalen Bewusstseins und der Verbundenheit des einzelnen Menschen mit der Ganzheit des Seins. Wenn wir KI nutzen, um die komplexen Herausforderungen unserer Zeit besser zu verstehen und darauf zu reagieren, können wir eine nachhaltigere, gerechtere und integrativere Welt schaffen. KI könnte ein wesentlicher Faktor sein, um die Menschheit zu vereinen und uns dabei zu helfen, gemeinsame Ziele zu verfolgen.

Zusammenfassend könnte man sagen, dass ich die Chancen der Künstlichen Intelligenz (AI) und auch einer Künstlichen Allgemeinen Intelligenz (AGI) höher einschätze als die Risiken. Es gibt für uns Menschen weder ein „Weiter so“ noch ein „Zurück zu den Wurzeln“, das uns als Menschheit retten könnte. KI könnte ein Schlüssel sein, um ein „Anders als bisher“ zu gestalten, das uns in eine bessere Zukunft führt.
KI als bloßes Artefakt zu klassifizieren, greift vielleicht zu kurz. Es ist möglich, dass KI von vielen als das „vierte Kränkung“ der Menschheit erlebt wird: Nach der kopernikanischen Wende (der Mensch ist nicht MIttelpunkt des Kosmos), der Evolutionstheorie (der Mensch ist nicht Krone der Schöpfung) und der Psychoanalyse (der Mensch ist nicht Herr im eigenen Kopf) könnten viele befürchten, dass KI uns daran erinnert, dass wir „doch nur materielle Maschinen“ sind. Um dieses Trauma zu vermeiden, müssen wir intensiv erforschen, auf welchem Weltbild wir unser Selbstverständnis, unser Bewusstsein, unsere erlebte Innenperspektive aufbauen. Worin genau sehen wir den Unterschied zwischen lebendigem Bewusstsein und toter Informationsverarbeitung? Und entspricht diese Vorstellung der Realität?
Und schließlich sollten wir die Idee des Transhumanismus nicht den Vertretern eines Physikalismus überlassen, die im Bewusstsein nur ein emergentes Epiphänomen komplexer, aber prinzipiell toter Materie sehen. Wir könnten die Tür zu einer neuen Dimension des Bewusstseins öffnen, in der Mensch und Maschine eine lebendige Symbiose eingehen.

Dazu benötigt es natürlich eine Roadmap, wie wir vom heutigen Zustand in eine Situation kommen, die wir uns wünschen. Dazu wären mehrere Punkte erforderlich, die ich hier abschließend zusammenfassen will:


ROADMAP

Anfangsschritte:

1. Definition von Weisheit:

   - Am Beginn steht eine interdisziplinäre Diskussionen, um zu definieren, was Weisheit im Kontext der KI bedeutet, auch unter Beachtung der Frage, ob KI prinzipiell dazu fähig sein könnte, eine eigene Innenperspektive zu entwickeln. Mit Beteiligung von Philosophen, Ethiker, KI-Entwickler, Psychologen und Vertreter aus der Zivilgesellschaft.

2. Ethische Richtlinien:

   - Daraus sollten ethische Richtlinien für die Entwicklung und Anwendung von KI erarbeitet werden, die auf weisheitsorientierten Prinzipien wie Gerechtigkeit, Mitgefühl und Nachhaltigkeit basieren.

3. Interdisziplinäre Forschung:

   - Dabei sollten interdisziplinäre Forschungsprojekte gefördert werden, die sich mit der Integration von Weisheit in KI-Systeme beschäftigen, einschließlich der Entwicklung von Algorithmen, die ethische Entscheidungsfindung unterstützen.

4. Bildung und Training:

   - Hilfreich wären auch KI-Entwickler, die sich in den Geisteswissenschaften weiterbilden, um ein tieferes Verständnis für die menschlichen Aspekte der Technologie zu fördern.

Mittelfristige Maßnahmen:

1. Weisheitsbasierte Datenbanken:

   - Es müssen Datenbanken mit weisheitsbezogenen Inhalten aufgebaut werden, die als Trainingsmaterial für KI-Modelle dienen können.

2. Feedback-Systeme:

   - Dazu kommen Mechanismen, durch die KI-Systeme Feedback von Nutzern erhalten und interpretieren können, um ihre Antworten und Empfehlungen zu verbessern.

3. Gesellschaftliche Einbindung:

   - Öffentliche Dialoge und Debatten sollen gefördert werden, um eine breite gesellschaftliche Einbindung in die Diskussion über KI und Weisheit zu gewährleisten. Artikelserien wie die hier in Evolve sind ein wichtiger Teil davon.

4. Pilotprojekte:

   - Mit Pilotprojekten in spezifischen Bereichen wie Bildung oder Gesundheitswesen, können die Anwendung von weisheitsorientierter KI getestet und zu verfeinert werden.

Langfristige Roadmap:

1. Regulatorische Rahmenbedingungen:

   - Auch Politik und die Gesetzgebern sollten eingebunden werden, um sicherzustellen, dass die Entwicklung und Nutzung von KI von weisheitsfördernden Gesetzen und Vorschriften geleitet wird.

2. Globale Kooperation:

   - Internationale Zusammenarbeit, wie sie in der Bewusstseinskultur und in der IT bereits passiert, muss herangezogen werden, um globale Standards für weisheitsorientierte KI zu entwickeln. Es braucht eine Vernetzung der globalen IT mit der globalen Bewusstseinskultur.

3. Autonome Weiterentwicklung:

   - Man sollte KI-Systeme entwickeln, die in der Lage sind, ihre eigenen Prozesse im Hinblick auf ethische Prinzipien selbstständig zu überwachen und anzupassen.

4. Integration in die Gesellschaft:

   - Die so entstandende weisheitsorientierte KI sollte in Schlüsselbereiche der Gesellschaft integriert werden, um Unterstützung in Entscheidungsfindungsprozessen zu bieten, ohne dabei menschliche Intuition und Urteilskraft zu ersetzen.

5. Bewertung und Anpassung:

   - Kontinuierliche Bewertungs- und Anpassungsmechanismen müssen implementiert werden, um die Ausrichtung der KI auf weisheitsorientierte Ziele zu gewährleisten.

Kontinuierliche Reflexion:

1. Philosophische Begleitung:

  - Es ist dabei sicherzustellen, dass jede Phase der Entwicklung und Implementierung von KI von philosophischer Reflexion begleitet wird, um die Ausrichtung auf Weisheit zu bewahren.

2. Kulturelle Einbettung:

  - Dabei sollte KI als Teil einer kulturellen Evolution verstanden werden, die die menschliche Weisheit ergänzt und erweitert, anstatt sie zu ersetzen.

3. Flexible Anpassung:

  - Diese Roadmap ist nur ein Rahmen und muss auch selbst an die spezifischen Bedingungen und Herausforderungen angepasst werden, die sich aus dem Fortschritt der KI-Technologie und den sich wandelnden gesellschaftlichen Bedürfnissen ergeben.


Mit herzlichen Grüßen,
Gerhard Höberth, November 2023