Gerhard Höberth

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Wo ist Bewusstsein in der Materie?

Chomsky, Kastrup und KI im Licht des Evolutionären Idealismus

 

Vor kurzer Zeit hat Noam Chomsky sich zu KI geäußert (New York Times, 8. März 2023) und da er bei vielen Integralen als Vordenker gilt, möchte ich darauf antworten. Diese Antwort möchte ich – weil es thematisch passt – mit einem kurzen Abstecher zu meiner Kritik an Bernardo Kastrups „Analytischen Idealismus“ verbinden.

 

Beginnen wir damit, was Noam Chomsky gesagt hat?

„Der menschliche Verstand ist nicht wie ChatGPT und Konsorten: eine gefräßige statistische Maschine zur Strukturerkennung, die Hunderte von Terabyte an Daten verschlingt und die plausibelste Antwort auf ein Gespräch oder die wahrscheinlichste auf eine wissenschaftliche Frage herausfischt. Andersherum ist der menschliche Verstand ein erstaunlich effizientes und elegantes System, das mit einer begrenzten Menge an Informationen arbeitet. Er versucht nicht, rohe Korrelationen aus den Daten herauszulösen, sondern versucht, Erklärungen zu finden. [...] Hören wir auf, es „Künstliche Intelligenz“ zu nennen, und nennen wir es, was es ist: „Plagiatssoftware“. Sie erschafft nichts, sondern kopiert bestehende Werke von bestehenden Künstlern und verändert sie so weit, dass sie dem Urheberrecht entgeht. Das ist der größte Diebstahl von Eigentum seit der Besiedlung des Landes der amerikanischen Ureinwohner durch europäische Siedler.“

Das Problem ist, dass er teilweise recht hat, aber nicht in seiner Grundaussage.

Ja, heutige Large-Language-Models (LLM) sind nicht wie der menschliche Verstand. Aber nicht, weil dieses KIs soviel anders funktionieren, sondern weil sie in einer anderen Wirklichkeit existieren. KIs verwenden Sprache zurzeit nicht wie wir, als repräsentatives Symbolsystem zum Informationsaustausch über eine hinter diesen Symbolen stehende Realität. KIs sind auf die Struktur der Sprache trainiert, wie ein Käfer auf die Gesetze der Physik. Deshalb ist jedes „Verständnis“, das wir in den Texten zu sehen glauben, nur eine Projektion unseres Sprachgebrauchs auf eine völlig andere Wirklichkeit. Das wird sich sofort ändern, wenn diese LLMs mit in der physikalischen Wirklichkeit agierenden Robotern verbunden werden und jene Wirklichkeit, über die sie sprechen, tatsächlich sinnlich erfassen und mit der Sprache korrelieren lernen.

Aber der menschliche Verstand ist nicht „effizienter, weil er mit begrenzten Informationen arbeitet. Der Vergleich ist falsch und verleitet deshalb zu Fehlschlüssen. Denn entweder, man vergleicht die Terabyte, die eine KI verschlingt, um antworten zu können, mit dem gesamten Erfahrungsschatz des Menschen, der ihn befähigt, Schlussfolgerungen zu ziehen, oder man vergleicht die begrenzten Informationen, die der Verstand zur Beurteilung einer Situation zur Verfügung hat mit den kurzen Promts, auf welche die KI antwortet.

Ist KI also eine „Plagiatssoftware“? Nein. Denn ein menschlicher Künstler arbeitet nicht anders. Er bezieht seine Phantasie nur nicht ausschließlich auf den Produkten anderer Künstler, sondern zusätzlich auch auf seine sinnlichen und geistigen Erfahrungen mit Natur und Kultur. Aber die Funktionsweise ist dieselbe: Aufgrund verschiedener Inputs werden Muster erkannt, die in der Welt vorkommen und was danach kopiert wird, sind die Muster und nicht die konkreten Eindrücke. Die Muster werden in immer neue Details eingekleidet, die zum Muster passen. Genau das machen auch heutige KIs.

Es gibt ja auch die Meinung, dass Künstler nur die Natur kopieren.

Andere drücken sich dazu anders aus:

„Ich wollte die Natur kopieren, aber ich konnte es nicht.“ – Claude Monet

„Die Natur hab ich kopieren wollen. Es gelang mir nicht.“ – Paul Cézanne

„Die Kunst ist eine Abstraktion: Ziehen Sie sie aus der Natur heraus, während Sie von ihr träumen, ...“ – Paul Gauguin

„Ich bin der einzige Künstler, den die Natur kopiert.“ – Salvator Dalì

 

Aber was genau bringt so viele Intellektuelle dazu, den Unterschied zwischen menschlichem Geist und Künstlicher Intelligenz zu betonen? Ist es nur die „vierte Kränkung der Menschheit“?

Sigmund Freud beschrieb dieses Kränkungen wie folgt:

1. Die kosmologische Kränkung: Die erste Erschütterung sei die mit dem Namen Kopernikus verknüpfte Entdeckung gewesen, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist (vgl. Kopernikanische Wende).

2. Die biologische Kränkung: Die zweite Kränkung lag in der Entdeckung, dass der Mensch aus der Tierreihe hervorgegangen ist (Charles Darwin und andere).

3. Die psychologische Kränkung: Die dritte Kränkung sei die von ihm entwickelte Libidotheorie des Unbewussten; ein beträchtlicher Teil des Seelenlebens entziehe sich der Kenntnis und der Herrschaft des bewussten Willens. Die Psychoanalyse konfrontiere das Bewusstsein mit der peinlichen Einsicht, (…) dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus.

 

Ist die Vorstellung, dass ein künstlich geschaffener Geist den menschlichen Geist ebenbürtig sein könnte, also nur die vierte Kränkung?

Ich denke, das Problem liegt viel tiefer. Verwurzelt in der Genese unseres Weltbildes. Nachdem sich die monotheistischen Religionsvorstellungen im Zeitalter der Aufklärung auszulösen begannen, schien die einzige Möglichkeit die menschliche Seele und ihre Unsterblichkeit zu retten, darin zu bestehen, dass man sich Materie und Geist als getrennte Substanzen vorstellte. Das perfektionierte René Descartes in seinen berühmten Meditationen, aus denen das Zitat stammt: „Ich denke, also bin ich!“ Dieser cartesische Dualismus war die Grundlage des modernen, westlichen Paradigmas der Welt.

Wissenschaft benötigte jedoch bald den geistigen Teil dieses Dualismus nicht mehr und begründete den Physikalismus. Aber man vergaß, das Bewusstsein, das auf die andere Substanz ausgelagert worden war, wieder zu integrieren. Deshalb ist dieser materialistische Physikalismus nur ein cartesischer Dualismus, der auf einem Auge blind geworden ist.

Heute versuchen Philosophen das Bewusstsein wieder zu erklären und manche, so wie Bernardo Kastrup, kommen so auf einen Idealismus als Gegenentwurf zum Mainstream. Allerdings ist dieser Gegenentwurf ebenso vom cartesischen Dualismus geprägt und es kommt zu Verirrungen, wie sie vielen Quantenmystikern passieren:

Bernardo Kastrup erklärt, dass Materie nur bei Beobachtung existiert und nicht wirklich da ist, bis man hinschaut. (Eine Diskussion über Quantenforschung zwischen Albert Einstein und Niels Bohr drehte sich um die Frage: „Gibt es den Mond, wenn keiner hinsieht?“)

Und - um das vorwegzunehmen - ich wäre da mit meinem Evolutionären Idealismus ganz bei ihm, wenn er nicht - wie alle Quantenmystiker - zwischen subjektiver Beobachtung und physikalischer Interaktion unterscheiden würde. So aber, wird sein analytischer Idealismus zu einer Theorie, die ebenfalls auf dem cartesischen Dualismus, der im Unterschied zum Physikalismus nur am anderen Auge blind geworden ist. Dieses unerkannte, im Hintergrund stehende Paradigma des – halbseitig blinden – cartesischen Dualismus führt dazu, dass es unvorstellbar wird, dass ein „künstlich geschaffener Geist“ einer „Innenperspektive eines lebenden Systems“ ähnlich sein könnte.

 

Wo ist das Problem?

Der Fehlschluss gründet auf der Tatsache, dass Quantenfakten erst durch „Messungen“ aus der (Quanten-)Wahrscheinlichkeit abgerufen werden.

Das führt zur - zunächst richtigen - Annahme, dass es einen Beobachter braucht, um Fakten zu schaffen.

Und dann passiert die unglückliche, anthropozentrische Übertragung, denn was gilt als „Beobachter“? Man hat VORHER schon eine feste Vorstellung davon, welche physikalischen Systeme überhaupt Bewusstsein haben können und zieht daraus genau jenen falschen Schluss der Quantenmystiker, Wirklichkeit existiere nur, wenn ein lebendiger Organismus diese Wirklichkeit beobachtet, weil nicht-lebende Systeme eben nichts beobachten. Wobei die Fehlstelle, das Axiom des „organischen Bewusstseins“, den blinden Fleck dieses Paradigmas darstellt und der Quantenmystiker glaubt tatsächlich, dass er sein Weltbild voraussetzungslos abgeleitet hätte. Dabei wird der Fehlschluss eigentlich schon deutlich, wenn man sich überlegt, wo man die Grenze zwischen lebendem Beobachter und blindem, physikalischen System zeiht. Früher war die Grenze, ab wann ein Organismus Bewusstsein haben kann, beim Menschen angesiedelt. Heute gesteht man zumindest Tieren ebenso Bewusstsein zu, aber den meisten ohne Selbstreflexion. Kastrup geht sogar so weit, dass er diese Form des Innenlebens allem organischen Leben zugesteht. Aber nicht anorganischen Molekülen oder Atomen. Er zieht also immer noch eine willkürliche Grenze, auch wenn sie ihm – und wohl auch vielen anderen – logisch erscheint.

Aber eine Messung (und ihre Beobachtung durch ein Bewusstsein) ruft nur deshalb Fakten aus Wahrscheinlichkeiten hervor, weil es sich um eine Interaktion mit/innerhalb der Quantenfunktion handelt. Eine Messung ist AUCH eine solche Interaktion. Aber Interaktionen gibt es auch OHNE Messungen und ohne, dass ein lebendiger Organismus die Ergebnisse der Messung beobachtet. Wenn zwei Elektronen miteinander interagieren, weil sie sich eine Atomschale teilen müssen, dann rufen sie FÜR EINANDER ebenfalls Fakten aus Wahrscheinlichkeiten ab. Damit reduzieren sie die Wahrscheinlichkeiten für spätere Beobachter. Als System sind sie zwar füreinander Wirklichkeit geworden, für externe Teile aber immer noch eine Quantenwahrscheinlichkeit. Wirklichkeit werden Wahrscheinlichkeiten nur für an den Interaktionen beteiligte Teile des Quantensystems. Elementarteilchen, die danach mit dem System des Elektronenpaars interagieren, finden nur eine geringere Wahrscheinlichkeitsbreite vor, aus denen die Wirklichkeit abgerufen werden kann.

 

Man kann also sagen, dass der Mond auch existiert, wenn niemand von uns hinauf schaut. Selbst die Rückseite des Mondes existiert auch dann, wenn niemand sie sieht, weil die Rückseite des Mondes selbst aus Billionen von panpsychischen/pantheistischen Beobachtern besteht.

 

Der Evolutionäre Idealismus integriert sowohl den emergenten als auch den konstitutiven Panpsychismus in eine Metatheorie, die auch den materialistischen Physikalismus und den perspektivischen Dualismus als Teilwahrheiten umschließt. Das bedeutet, dass der analytische Idealismus von Kastrup nach unten erweitert wird, damit jede Materie in das System integriert wird. Es ist also nicht nötig, dass ein biologischer Beobachter die Materie sieht, damit sie existiert. Die Materie selbst ist ein solcher Beobachter.

Deshalb ist die Vorstellung, ein künstlicher Geist könnte Bewusstsein entwickeln, für den Evolutionären Idealismus kein Problem. Es keinen prinzipiellen Unterschied gibt, der ein biologisches System von einem künstlicher erzeugten System trennt.

 

Welche Voraussetzungen das Entstehen von Bewusstsein in JEDEM informationsverarbeitenden System hat, soll aber Thema eines anderen Blogbeitrags werden.

 

Gerhard Höberth, November 2023